Leseprobe "Auslöser"

von Vera Schnell

Kapitel 2

Dienstag, 4. Juni 2013

Überpünktlich wie immer, setzte Lisa sich so, dass sie das große Fenster im Rücken hatte. In Ruhe packte sie ihre Unterlagen auf den Besprechungstisch und nahm sich die endgültige Auswahlliste noch einmal vor. „Geheimnisvolle Farben" hatten sie ihren diesjährigen Fotowettbewerb genannt, das ließ viele Sichtweisen und Lösungen zu. Kreative und eher pedantische Fotografen hatten sich angesprochen gefühlt, Anfänger und bereits bekannte Fotokünstler waren darunter, die Einsendungen waren äußerst zahlreich eingegangen. Das war auch nicht zuletzt dem großzügigen Sponsor zu verdanken, der eine Reihe sehr attraktiver Preise zur Verfügung gestellt hatte. Immerhin war neben einigen großzügigen Städtereisegutscheinen wieder ein Preis für das künstlerisch beste Foto ausgesetzt worden: 7.000,00 Euro warteten auf die Hauptgewinnerin. Denn dass es eine Frau sein würde, stand seit der letzten Jurysitzung endgültig fest. Schon früh hatte sich abgezeichnet, dass fast alle Juroren das fantastische Foto von Angela Humbert favorisierten. Eine abstrakt wirkende Komposition aus unwirklich strahlenden Farben, die man immer und immer wieder betrachten konnte.

Etwas ganz Besonderes, Unbeschreibliches, Geheimnisvolles umgab dieses Foto, das die bis dahin unbekannte Angela Humbert erst kurz vor dem Einsendeschluss eingereicht hatte, als hätte sie lange überlegt, ob sie überhaupt am Wettbewerb teilnehmen sollte. Im Wettbewerbsfragebogen hatte sie sich kurz und knapp als „Hobbyfotografin" eingetragen, ihre Kamera als kleine, preiswerte Digitalkamera angegeben. Und dann so ein Bild eingereicht! Die „Weiden" zeigten verschwommene Baumstämme, die sich in frühmorgendlichen Nebelschwaden aufzulösen schienen. Wie aus dem Nichts strahlten leuchtende Farben zwischen den Stämmen der Weiden hervor, wunderschön und irgendwie irreal. Orangerot strahlte die aufgehende Sonne. Die Landschaft war zugleich verzerrt und zauberhaft verwandelt. Das Foto konnte überall aufgenommen sein, wirkte zeitlos schön und geheimnisvoll, eine vollendete Komposition, bei der einfach alles stimmig war.

"Ja da schaut's her, die fleißige Frau Grün ist wieder die Erste, Grüß Gott, Frau Kollegin, fesch schaun's heut' wieder aus." Lisa schrak zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Dr. Karl Otto, Leiter der Bergstadter Realschule und Juryvorsitzender, von manchen auch spöttisch hinter der Hand „Otto der Große" genannt, den Raum betreten hatte. Sie konnte ihn einfach nicht ausstehen, diesen verknöcherten Typen mit seiner aufgesetzten künstlichen Freundlichkeit und seinem überflüssigen und falsch klingenden bayerischen Gehabe. Sie lächelte dünn: „Guten Morgen, Dr. Otto, dann kann's ja bald losgehen." Hoffentlich ließen die Anderen nicht mehr lange auf sich warten. Lisa begann in ihr Handy zu tippen, um einen beschäftigten Eindruck zu machen. Einen Dr. Otto konnte sie damit allerdings nicht abschrecken: „Wie schön, dass ich Sie da mal ganz für mich allein hab'." Grundgütiger, was kam jetzt? Lisa schickte ein Stoßgebet zum Himmel, wo blieben die drei anderen Juroren bloß? „Na, I' hab' mir halt denkt, mir zwoa Hübsch'n", setzte Otto an. „Hallo und einen wunderschönen guten Morgen", dröhnte es von der Tür her, Max Pfeifer kam auf sie zu und drückte sie herzhaft an seine breite Brust. Puh, das war haarscharf und noch mal gut gegangen, Lisa hatte ihren alten Freund Max noch nie so gern gesehen. „Max, wie schön, dich zu sehen, ich muss ganz dringend mit dir reden", zog sie ihn vor die Tür. „Bitte rette mich", wisperte sie an seinem Ohr. „Und erlöse mich von dem Bösen?", dröhnte Pfeifer zurück, der Otto auch nicht ausstehen konnte. Zur gleichen Zeit glitt die Fahrstuhltür auf und Anna Hübsch kam mit Josef Große-Vosskuhl auf sie zu.

Die Begrüßung fiel herzlich aus und die nun vollständige Wettbewerbsjury begab sich auf ihre Plätze. „Grüß Gott alle miteinand' und willkommen zu unserer letzten Jurysitzung, dem Grand Finale sozusagen", Otto fühlte sich in seiner Rolle des Großen Vorsitzenden sichtlich wohl. Er griff in seine protzige Ledertasche und zog ein paar Blatt Papier heraus, denen ein großer Laptop folgte. „Unsere Tagesordnung, Herrschaften, damit alles seine Ordnung hat. Als Erstes steht nun unsere endgültige Abstimmung über die Bilder des letzten Durchgangs an. Sie finden alle Ausdrucke bei Ihren Unterlagen. Ich bitte um Ihr Handzeichen für Foto Nummer 13." Niemand regte sich. „Nun, wohl kein Gewinnerfoto, dieses Alpenpanorama", versuchte Otto sich an einem Scherz. Niemand lachte. „Foto Nummer acht, unser „Hundewelpe im Zuber", wer stimmt für diese Einsendung?", wieder gab es kein Handzeichen. Bild fünf, eine postkartenwürdige Aufnahme des Bergstadter Rathauses mit Herbstlaub erhielt immerhin die Stimme von Josef Große-Vosskuhl, der sich als Erster Beigeordneter der Stadt wohl dazu verpflichtet fühlte. Die restlichen vier Stimmen erhielt „Die Weiden", das bemerkenswerte Foto von Angela Humbert.

Dr. Otto rückte seine Brille zurecht und nahm eine straffe Körperhaltung an: „Ich stelle fest, dass wir einen Sieger haben. Eine Siegerin, um genau zu sein und dem schönen Geschlecht die Ehre zu geben". Hatte er ihr jetzt etwa zugezwinkert? Lisa ließ den Blick nicht von ihren Unterlagen und hoffte, dass der Moment schnell vorbeiging. „Ich habe mir erlaubt, heute außerdem die CD mit der Originaldatei des Siegerfotos mitzubringen. Denn die Konditionen unseres Wettbewerbes schreiben vor, dass wir vor der endgültigen Preisvergabe anhand des Originals gemeinsam überprüfen, ob das Siegerfoto nicht unerlaubte Überarbeitungen oder Verfälschungen aufweist. Das hat mein Freund, Prof. Degener, seines Zeichens Spezialist für Bildforensik an der Technischen Universität Dresden, übernommen und mir persönlich versichert, dass dieses Foto authentisch ist." Er startete den Laptop und legte die offiziell gestempelte CD mit den Originalen des Wettbewerbs ein. „So, hier haben wir die Weiden, unser wirklich überzeugendes Siegerbild. Und so, meine Damen und Herren Juroren, sieht das Foto aus, wie es unsere Siegerin im vergangenen Jahr geschossen hat."

Verblüfft hielt er inne: „Erstaunlich, da ist kaum ein Unterschied zwischen den beiden Versionen, wirklich eine außerordentliche Leistung, was meinen Sie?" Lisa kniff die Augen zusammen, um die tatsächlich minimalen Unterschiede zu sehen. Der Ausschnitt des Originals war etwas größer als in der Wettbewerbsversion. Da war, in Lisas Magen klumpte sich etwas zusammen, da war ein Ast zu sehen, der zwar geheimnisvolle Farben aufwies, jedoch keine natürlichen, vielmehr war er mit Wolle in leuchtenden Farben umringelt. Außerdem flatterte unübersehbar ein langes, buntes Stück Stoff ganz außen am Bildrand. Jetzt zuckte Lisa tatsächlich zusammen: Das war der Baum, den einige Naturschützer vor längerer Zeit bestrickt hatten. „Guerilla Knitting" sollte auf die bedrohte Natur aufmerksam machen und brachte mancherorts ganz ansehnliche Ergebnisse und neue Erfahrungen mit sich. Und der Baum auf dem Foto von Angela Humbert stand im alten Stadtpark, an der kleinen Lichtung nach Osten. Dort, wo es steil bergab ging in den kleinen Weiher, eine ehemalige Kiesgrube. Wie von fern hörte sie Dr. Ottos Stimme: „Die Wettbewerbsbedingungen sehen außerdem vor, dass wir die Dateieigenschaften, also Aufnahmedatum et cetera, notieren und die Bearbeitungsschritte kontrollieren, ob sie mit dem übereinstimmen, was der Einsender – sorry, die Einsenderin – " er blickte Beifall heischend zu Lisa, die ihn diesmal aber gar nicht bemerkte, „also, wie die Einsenderin es im Wettbewerbsfragebogen ausgefüllt hat." Er klickte die Dateieigenschaften an: „Aufnahmedatum: 07.06.2012, 05.23 Uhr", las Lisa, dann wurde ihr schlecht.


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